Wissenschaftsgeschichte
Wesentliche Grundlagen hatten regionalökonomische und geographische Ansätze geliefert, die in Deutschland entwickelt wurden, wobei insbesondere von Thünen, Christalter und Lösch zu nennen sind. Isard bezieht sich besonders auf den deutschen Ökonomen August Lösch, dessen erstmals 1940 erschienenes Werk „Die räumliche Ordnung der Wirtschaft" in Deutschland zu seiner Zeit nur eine geringe Beachtung gefunden hatte. Erst nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und damit nach dem Tode des damals erst 39-jährigen Lösch wurde die wegweisende Bedeutung dieses Werkes erkannt. Entsprechend lässt lsard die Regionalwissenschaft in den späten 40er Jahren entstehen (lsard 1975:6). Am Ende seines umfangreichen Lebenswerkes hat Walter lsard die Geschichte der Regionalwissenschaft in dieser Zeit umfassend dokumentiert und wissenschaftsgeschichtlich eingeordnet (lsard 2003).
In Deutschland, dessen Wissenschaftler Isard zu den Grundlagen inspiriert hatten, dominierten andere Begriffe, einerseits die Regionalökonomie als disziplinär den Wirtschaftswissenschaften zuzuordnender Begriff, andererseits Regionalforschung ohne eine disziplinäre Zuordnung und somit eine Sammelbezeichnung für Ansätze, die aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen - Ökonomie, Geographie und andere - kamen. Die disziplinäre Erweiterung der Regionalwissenschaft von der Ökonomie zu den Sozialwissenschaften erfolgte bereits von Beginn des Faches an. So hieß die deutschsprachige Sektion der internationalen Regional Science Association auch „Gesellschaft für Regionalforschung". Dies trug der zunehmenden Bedeutung der Raumwissenschaften und der Entstehung institutionalisierter Planungen auf regionaler Ebene Rechnung. Dem folgte die Gründung des ersten deutschen Instituts für Regionalwissenschaft, das als interdisziplinäres Institut mit einer fakultätsübergreifenden Struktur 1970 an der Universität Karlsruhe geschaffen wurde. Es befasst sich seitdem mit Theorie und Praxis der Regionalwissenschaft, wobei in der Praxis die Anwendung für räumliche Planung verstanden wird.
Regional science oder area studies?
Während die regional science oder Regionalwissenschaft keinen expliziten regionalen Fokus hat, ist dies bei den sogenannten area studies der Fall. Es sind Fachrichtungen und Studiengänge, die sich mit einem breiten fachlichen Ansatz von der Sprach und Kultur- bis zu den Wirtschaftswissenschaften mit einer bestimmten Region beschäftigen. Dass area studies im Deutschen zuweilen mit Regionalwissenschaften übersetzt wird, zur begrifflichen Verwirrung beiträgt, ist bedauerlich, denn dadurch erhalten Singular und Plural desselben Begriffs völlig unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge. Daher ist eine Klärung wie die vorliegende zwingend erforderlich.
In Karlsruhe wird der Begriff ohne einen speziellen regionalen Fokus, also im ursprünglichen Sinne von Lösch, Isard und ihren Nachfolgern, verwendet. Die Regionalwissenschaft untersucht mit sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und naturwissenschaftlichen Methoden regionale Strukturen, Prozesse und Konflikte (Regionalanalyse), um Regelhaftigkeiten zu ermitteln, damit künftige Entwicklungen abzuschätzen (Regionalprognostik) und die ablaufenden Prozesse mit den Instrumenten der Regionalpolitik und Raumplanung zu beeinflussen. Das Entwickeln von Analyse und Planungsmethoden und ihre Anwendung in unterschiedlichen Regionen der Erde ist also das Ziel.
Der zunehmenden Fragmentierung räumlicher Prozesse gegen Ende des 20. Jahrhunderts folgten spezialisiertere Analyse- und Planungsansätze, insbesondere zwischen den Hochtechnologieländern des Nordens und den Niedrigtechnologieländern des Südens, die immer noch - mangels einer guten Alternative - mit den irreführenden Begriffen der Industrie- und Entwicklungsländer bezeichnet werden. Myrdal hatte schon 1957 die theoretischen Überlegungen spezieller Prozesse in den „unterentwickelten" Ländern, denen auch spezielle Maßnahmen folgen müssen, zusammengefasst.
Spezialisierung auf Entwicklungs- und Schwellenländer sowie Länder des ehemaligen Ostblocks
Der Studiengang „Regionalwissenschaft/Raumplanung" an der Universität Karlsruhe spezialisierte sich in den neunziger Jahren aufgrund der großen Nachfrage zunehmend auf die besonderen Probleme der Entwicklungs- und Schwellenländer sowie die Länder des ehemaligen Ostblocks, in denen vielfältige und häufig sehr konfliktreiche Transformationsprozesse ablaufen. Mit umfangreicher Unterstützung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit wird hier der international ausgerichtete Masterstudiengang „Regionalwissenschaft/Raumplanung" betrieben, der sich der Analyse der Strukturen, Prozesse und Konflikte in diesen Ländern zuwendet und darauf aufbauend planerische Konzeptionen entwickelt. Die zunehmend divergierenden regionalen Prozesse und die politischen Ziele einer Verwaltungsdezentralisierung schaffen weltweit einen hohen Bedarf an den dafür ausgebildeten Regionalwissenschaftlern. Die Bezeichnung des Studienganges „Regionalwissenschaft/Raumplanung" soll unterstreichen, dass eine fundierte regionalwissenschaftliche Analyse die notwendige Voraussetzung jeder erfolgreichen Planung ist.
Verbindung von Forschung und Lehre
Der langen auf Wilhelm von Humboldt zurückreichenden Tradition der deutschen Universitäten, Forschung und Lehre so zu verbinden, dass die beste Lehre durch gemeinsame Forschung erfolgt, ist das Konzept des Masterstudienganges verpflichtet. Es basiert auf dem Ansatz der transdisziplinären Wissensintegration mit der erforderlichen Methodenpluralität, um die aktuellen Probleme der Regionen in einem fachübergreifenden Ansatz zu untersuchen und angemessene Lösungen zu entwickeln. Die zahlreichen in allen Ländern der Welt in Forschung und Planungspraxis erfolgreich tätigen Regionalwissenschaftlerinnen und Regionalwissenschaftler belegen die Tragfähigkeit dieses Konzeptes. Es wird in seinem Aufbau, dem Curriculum des Masterstudienganges, nachfolgend kurz umrissen.
Eigenständige Analyse und angemessene Lösungen
Planungen und Maßnahmen erweisen sich sehr oft, auch wenn sie sehr gründlich geplant wurden, als fehlerhaft und haben bei Betroffenen wenig Akzeptanz. Die meisten dieser so genannten Fehlplanungen beruhen darauf, dass sie sektoral optimiert wurden und die sekundären Wirkungen oder Folgewirkungen einer Maßnahme nicht berücksichtigt werden. Eine Hauptaufgabe der regionalwissenschaftlichen Analyse stellt daher die Herstellung der erforderlichen Kontexte zum Problem oder zum Planungsprojekt dar, die Kontextualisierung. Um diesen analytischen Vorgang zu systematisieren, differenzieren wir in die fachlichen, die räumlichen und die zeitlichen Kontexte. Die wichtigsten fachlichen Kontexte einer technischen Maßnahme sind beispielsweise die sozialen, ökonomischen und ökologischen Nebenwirkungen. Zu ihrer Analyse sind Elemente der soziologischen, der ökonomischen und der ökologischen Regionalanalyse erforderlich, daher müssen die entsprechenden fachwissenschaftlichen Grundlagen vermittelt werden. Dies geschieht im Modul Grundlagen (Modul M4). Die erhobenen Daten müssen statistisch (Modul M3/CM3) sowie räumlich mit Geographischen Informationssystemen (Modul M2/CM2) verarbeitet werden. Erst auf der gründlichen Analyse aufbauend können Methoden, Techniken und Einrichtungen der Planung sinnvoll eingesetzt werden. Sie werden in den Modulen M6/CM6 und M7/CM7 vermittelt.
Die für Wissenschaft und Planung gleichermaßen erforderlichen wahrnehmungs- und kommunikationswissenschaftlichen Grundlagen sowie der Rahmen zum Verständnis des Faches und seiner Methoden werden in einem einführenden Modul (Modul M1/CM1) gelehrt.
Der Projektbezug des Studiums wird dadurch hergestellt, dass alle Teilnehmer des Masterstudienganges während des ersten Studienjahres ein Studienprojekt und während des zweiten Studienjahres ein Masterprojekt selbstständig wissenschaftlich bearbeiten. Die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten dazu werden in den Modulen M8/CM8 und M9/CM9 vermittelt. Spezielle Module zu den Problemen der Niedrigtechnologieländer oder Transformationsproblemen sowie individuelle Vertiefungen in Wahlpflichtmodulen runden das Curriculum ab. Die Studierenden sollen dadurch in die Lage versetzt werden, regionalwissenschaftliche Probleme in der Welt eigenständig analysieren und angemessene Lösungen entwickeln zu können.
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Literatur
- Christaller, W. (1933): Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Unteruchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischer Funktion. Jena
- lsard, W. (1975): lntroduction to Regional Science. Englewood Cliffs
- lsard, W. (2003): History of Regional Science and the Regional Science Association International. Berlin, Heidelberg
- Lösch, A. (1940): Die räumliche Ordnung der Wirtschaft. Eine Untersuchung über Standort, Wirtschaftsgebiete und internationalen Handel. Jena
- Myrdal, G. (1957): Economic Theory and Underdeveloped Regions. London
- Thünen, J.H. v. (1826): Der lsolirte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, oder Untersuchungen über den Einfluß, den die Getreidepreise, der Reichthum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben. Hamburg 1826